Sonntag, 5. Juli 2015

Oxi

Wenn eine außenpolitische Situation zu schwierig wird, setzten westliche Regierungen auf „Regime Change.“
Zur Not bombt man dann auch eine Regierung wie im Irak oder Libyen einfach weg.
Umgekehrt wird es natürlich als extremer Skandal empfunden, wenn irgendeine ausländische Regierung auch nur zwischen den Zeilen durchblicken läßt, daß ihr eine andere Bundesregierung lieber wäre.

Für Griechenland gelten aber keinerlei Spielregeln, kein Anstand und keine Diplomatie mehr.
Daß sich ein Ministerpräsident in Athen nicht mehr devot wie in den fünf Jahren zuvor die völlig kontraproduktive Politik aus Brüssel diktieren läßt, können Merkel, Schäuble, Schulz und Co gar nicht fassen.
Die wollen nicht so wie wir?
Dann müssen die eben weg!
Merkel igelte sich die letzte Woche im Kanzleramt ein, sagte nichts „zum Euro“. Der Plan war, bis heute abzuwarten. Dann würde das griechische Volk diesen aufmüpfigen Emporkömmling mit dem glatzköpfigen Motorradfahrer an seiner Seite wegfegen und einen CDU-genehmen Statthalter inthronisieren.
Das war Plan A, Plan B und Plan C. Dabei standen die Platzhalter „A, B und C“ allerdings alle für „Nai“.
62% Oxi war einfach nicht vorgesehen.
Zu blöd, daß sich die griechischen Wähler nicht an das Berliner Drehbuch hielten!

Respekt für die mutige Entscheidung der Griechen.
Widerständige Demokraten haben dem riesigen Druck und den Drohungen aus der EU, nahezu aller Spitzenpolitiker und der meisten Medien, getrotzt und unabhängig entschieden.
 Wir müssen zur Kenntnis nehmen: Tsipras hatte Recht. Das griechische Volk will sich nicht alles gefallen lassen. Reformen JA aber keine solchen, mit weiteren Spargrausamkeiten zu Lasten der eh schon Armen.
Soviel einseitige Einmischung vor einer Wahlentscheidung in einem Land der EU aus den anderen Länder gab es noch nie. Kaum ein Spitzenpolitiker, der nicht die vermeintliche Chance nutzte, die aufmüpfige griechische Regierung loszuwerden. Viele versuchten gar mit Druck und massiven Drohungen, die Fortsetzung der unverantwortlichen Sparpolitik zu Lasten der Armen Griechenland zu erzwingen. Eigentlich schade. Warum dürfen Griechen nicht frei und unbeeinflußt von Außen entscheiden, was für sie und ihr Land richtig ist?
 Warum wurde ständig unterstellt, die Griechen wüßten gar nicht, über was sie entscheiden?
So wie bisher geht es nicht weiter. Die Sparpolitik der „Rettungsschirme“ ist trotz immenser Opfer der griechischen Bevölkerung gescheitert.
Nicht nur in Griechenland.
(Hans-Christian Ströbele 05.07.15)

Nun hat Merkel ein echtes Problem. Die Athener Regierung wird sich nicht aussitzen lassen.

Der Untertitel der SPIEGEL-Titelgeschichte ist vermutlich auch im Kanzleramt gelesen worden:

Die Griechenlandkrise stürzt die EU auch deshalb ins Chaos, weil die Kanzlerin die Dinge so lange treiben ließ.

Weiter heißt es dort:

Merkel hatte Tsipras immer als einen Mann beschrieben, der zwar eine verrückte Truppe anführe, im persönlichen Umgang aber durchaus offen und zuvorkommend sei. Es war ihre Hoffnung, dass Tsipras am Ende den Kräften der Vernunft zum Durchbruch verhilft. Nun sieht es so aus, als ob er Merkel das größte Debakel ihrer Amtszeit bereite. (…) Die Kluft, die sich nun in Europa auftut, hat auch etwas mit Merkels Politikstil zu tun, mit ihrer Eigenart, die Dinge lange treiben zu lassen. Diese Methode funktioniert, wenn es darum geht, einen Kompromiss auszuhandeln, und alle Beteiligten an einem guten Ergebnis interessiert sind. Aber sie findet ihre Grenzen, wenn jemand wie Tsipras zum Äußersten entschlossen ist. (…) Es ist schon lange klar, dass Griechenland ein Sonderfall der Eurokrise ist. Ein Land, in dem weder das Steuersystem funktioniert noch das Katasterwesen und das zudem so hoch verschuldet ist, dass kein vernünftiger Ökonom noch an eine Tilgung der Kredite glaubt. (…)  Merkel wusste das alles. Dennoch hat sie es mit Rezepten versucht, die sie in der deutschen Innenpolitik angewandt hat: zögern, verstecken, die Dinge im Ungefähren lassen. (...) Die Griechenlandkrise hätte Führung verlangt, einen Plan, aber den wollte Merkel nicht vorgeben. Merkel mag zwar die Macht, aber im entscheidenden Moment weiß sie nicht, was sie damit machen soll. Sie steht nun vor den Trümmern ihrer Europapolitik. Wie konnte es so weit kommen?
(DER SPIEGEL 04.07.2015)

Merkel steht jetzt auch deswegen so blamiert da, weil weite Teile der deutschen Presse ihre Objektivität längst aufgegeben hatten und so auf Syriza eindroschen, daß in Berlin das schiefe Meinungsbild entstand, auch in Griechenland gäbe es breite Mehrheiten gegen Tsipras und Co.
Das OXI von heute ist also auch ein Schlag ins Gesicht für die deutsche Journaille.

Kein Unterschied, ob "Bild", "Zeit" oder ARD: In den deutschen Medien schwingen sich Journalisten reihenweise zu pöbelnden Parteigängern auf, statt Fakten und Analysen zur Griechenlandkrise zu bringen.
Es ist wir gegen die. Es ist Vernunft gegen Wahnsinn. Es ist eine "griechische Tragödie". Es geht um "unser Geld" (Anja Kohl), es geht um "unsere Leute" (Sigmar Gabriel). Es ist Showdown, und die Waffen werden gezückt: Das "Handelsblatt" zeigt Alexis Tsipras, der sich die Knarre an den Kopf hält, und findet, dass das noch Journalismus ist.
[…]  Anja Kohl zum Beispiel. Eine Frau, die seit Jahren nichts anderes tut, als dem Dax das Händchen zu halten, wenn es ihm mal nicht gut geht, und den Finanzkapitalismus anzufeuern, der im Kern die Ursache der Griechenlandkrise überhaupt ist, wie Ana Swanson in der "Washington Post" gut beschrieben hat.
Kohl also, die schon 2009 dafür kritisiert wurde, dass sie bei einem dubiosen Börsen-Seminar auftrat und Veranstaltungen von DAX-Firmen moderierte, über die sie eigentlich objektiv berichten sollte, die 2014 bei Frank Plasberg patzig wurde, als es mal wieder um "unser Geld" ging, und die nun bei Günther Jauch auf den neben ihr sitzenden Griechen einschimpfte und dann fauchte, "wir" hätten doch Griechenland dies und das und alles Mögliche angeboten - als sei sie Teil des Verhandlungsteams und nicht des Journalismus.
Oder Rolf-Dieter Krause, der nach langen Jahren in Brüssel an einer Art Stockholm-Syndrom leidet, nur noch in der stahlblauen Rationalität der Macht denkt und wie Kohl sein gebührenfinanziertes Gehalt eigentlich dafür kriegt, dass er möglichst objektiv sein sollte - diesem ARD-Krause platzte bei Plasberg heraus, man solle doch am besten "die Jungs von Syriza zum Teufel jagen".
Oder Marc Brost, der die ganze Titelseite der "Zeit" dafür nutzen durfte, den "lieben Griechen" papamäßig zu erklären, sie müssten sich "gegen die Politik wenden, die Sie erst vor fünf Monaten gewählt haben"; und zwar auf Deutsch und auf Griechisch, damit auch ja alle verstehen, dass das nicht etwa die Einzelmeinung eines Redakteurs ist, sondern ein Befehl der Schreibtisch-Merkantilisten von der "Zeit". […]
Dass die "Bild" den Schmeißt-sie-raus-Populismus noch ein wenig pimpt und zum eigenen Referendum aufruft: eklig, geschenkt; dass aber zum Beispiel Mister Fassungslos, Frank-Walter Steinmeier, in all den Jahren nicht offensiv davon gesprochen hat, das zwischen 77 (SPIEGEL ONLINE) und 90 Prozent ("Guardian") der "Hilfsgelder" direkt an die Banken gingen und nicht an die griechische Bevölkerung?! […]

Es macht Merkels Totalversagen nicht besser, daß auch die führenden Sozialdemokraten in dieser Angelegenheit – Sigmar Gabriel und Martin Schulz – nicht nur kein Jota zu einer vernünftigen Lösung beitrugen, sondern ebenfalls nationalistisch und neoliberal argumentierten.

Schulz war es noch nicht mal zu peinlich Europa massiv über die angeblichen Zugeständnisse Brüssels zu belügen, obwohl jeder nachlesen kann, daß der EU-Parlamentspräsident nicht die Wahrheit sagt.

Merkels Epigonen der Öffentlich-Rechtlichen, Wolf-Dieter Krause und Siegmund Gottlieb jammerten schon öffentlich von den Milliardenlöchern, die nun in Schäubles Planungen gerissen würden, wenn Griechenland nicht seine Schulden begliche.
Als ob das nicht seit mindestens 5 Jahren klar war, daß es niemals zu einer vollständigen Rückzahlung kommen kann.
So wie fast nie Staatsschulden zurückgezahlt werden. Deutschland ist diesbezüglich Vorreiter und hat nie seine Schulden abgezahlt.

Ein weiteres Trilemma für die Kanzlerin!
·       
Nun muß sie entweder vor dem Wähler offenbaren, daß sie grob fahrlässig gehandelt hat, indem sie zig Milliarden deutsches Steuergeld versenkt hat – und das obwohl es an Warnungen davor nie mangelte.

·        Oder sie gibt zu, daß ihre ganze Drohkulisse völlig verlogen war, weil Deutschland unterm Strich am meisten davon profitiert*, daß Griechenland horrende Zinsen an deutsche Investoren abzahlt.

·        Oder, dritte Möglichkeit, sie muß öffentlich einknicken und doch dem unausweichlichen Schuldenschnitt zustimmen. Damit würde sie aber Varoufakis einen Sieg schenken und gewaltigen Ärger in ihrer Partei bekommen.

Eine Wahl zwischen Pest, Cholera und Krätze.

Merkel steckt ganz tief in der Scheiße.

*
Es stimmt: Gerade Wolfgang Schäuble kann sich für seinen Bundeshaushalt freuen. Denn seit Beginn der Finanz- und Euro-Krise spart Deutschland Geld, nämlich Zinsen, die es für seine eigenen Kredite zahlen muss. Die Zinsen der EZB sanken im Zuge der Krise, seit Juli 2008 von 4,25 Prozent auf derzeit 0,05 Prozent. Davon profitiert Deutschland. Ein positiver Effekt – erkannt und ausgerechnet hat ihn als Erster Jens Boysen-Hogrefe vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel.

Jens Boysen-Hogrefe vom Institut für Weltwirtschaft erklärt:
»Durch die Schuld-Titel, die der Bund seit 2009 ausgegeben hat, wurden im Vergleich zum Vor-Krisenniveau 160 Milliarden Euro eingespart.«

160 Milliarden Euro Ersparnis, weil Deutschland seit Jahren als der sichere Hafen für internationale Großanleger gilt. Das ist die eine, überraschende Seite. Auf der anderen Seite bürgt Deutschland mit 85,2 Milliarden Euro für die griechischen Hilfsmaßnahmen. Und die sind wohl verloren. Aber was würde das bedeuten?

Dazu meint der Fachmann Hogrefe:
»85 Milliarden Euro sind sehr viel, das sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Aber es ist, so wie Öffentliche Haushalte aufgestellt sind, ein verkraftbarer Betrag.«

Das Fazit lautet: Gut 85 Milliarden Miese, wenn Griechenland baden geht. Dagegen 160 Milliarden Plus seit Beginn der Euro-Krise. So gesehen profitiert Deutschland.

Deutschland ist Profiteur der Griechen-Krise!


Das wird auch seit fünf Jahren erklärt.
Aber wen interessieren schon Fakten? BILD und Co lügen weiter, daß sich die Balken biegen – und wenn noch so viele Presseratsrügen erteilt werden.





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