Dienstag, 6. Januar 2015

Japanese Whispers

Exzentrik ist nicht wohlgelitten in Deutschland.

(….)
Ich nehme an, daß es nun mal die deutsche Spießer-Seele so verlangt, daß man Asylantenheime, Frauenhäuser, Obdachlose, Behinderte, Kindergärten, Homo-Altenheime, Fixerstuben, Gefängnisse, geschlossene Heime, Psychiatrien zwar nicht generell ablehnt, sie aber keineswegs nebenan haben will.

Ich nehme an, daß im deutschen Wesen eine große Sehnsucht nach Geborgenheit in der Uniformität liegt. Reihenhaussiedlungen, Vorschriftenkataloge für die Bepflanzung von Schrebergärten, Trachtenvereine, Massengottesdienste, Schützenumzüge, Fankleidung, 4,5 Millionen VW-Golfs auf deutschen Straßen - all das sind die Symptome der Uniformitätsvorliebe. Man will so sein wie die anderen und es soll sich niemand abheben.

Ich nehme an, daß es geschichtlich begründete Komplexe gibt sich öffentlich zu seiner Extraordinärität zu bekennen.

Ich nehme an, daß die Individuen in den deutschen Vorstädten durchaus ihren geheimen Vorlieben frönen. Daß sie Bizarres mögen und das Abseitige schätzen. Aber das findet im Keller statt.

Ich nehme an, daß das alles gar keine so typisch deutschen Eigenschaften sind.

Sehen in Holland die bezaubernden endlosen Reihen der Gardinen-losen Stadthäuschen nicht auch alle gleich aus?
Muß die amerikanische Mittelklasse nicht auch hinter den weißen Gartenzäunen genau die gleichen Gartenmöbel und SUVs parken, wie die Nachbarn?
In Japan gibt es den erzieherischen Leitspruch „Wenn ein Nagel hervorsteht, dann schlag mit dem Hammer drauf, bis er in die Reihe passt“
Es fällt doch eher auf, wenn in einigen Gegenden der Welt Menschen ihrer Exzentrik frönen, wie es bei der englischen Oberschicht, den Isländern oder der Queer Community San Franciscos der Fall ist.

Aber es gibt auch innerhalb der Normalo-Städte Enklaven der Unangepasstheit. Kreuzberg 36 ist nicht wie Reinickendorf und Hamburg-St. Pauli nicht wie Blankenese.

Ich kann gar nicht glauben, daß ich in diesem Blog noch nie eins meiner Lieblingsbücher, „Exzentriker“, gesprochen habe.
Exzentrik ist wissenschaftlich erstaunlich wenig erforscht und so fällt es bis heute schwer gesunde Exzentrik von psychopathischen Neurosen zu unterscheiden.
Unglücklicherweise schließt das eine das andere auch nicht aus.

Der Neuropsychologe David Joseph Weeks, Leiter der klinischen Psychologie am Royal Edinburgh Hospital und sein Co-Autor Jamie James untersuchten für ihre 1995 erschienenes Werk (“Eccentrics“, Verlag Weidenfeld & Nicolson, London) die gesamte Literatur zumPhänomen Exzentrik und interviewten im Zeitraum von über einer Dekade mehr als 1000 Exzentriker. Hinzu kam eine historische Analyse von 150 Exzentrikern, die von 1551 bis 1950 lebten.
Einige Gemeinsamkeiten waren offensichtlich. Alle fühlten sich schon als Kinder „anders als die anderen“ und alle waren überdurchschnittlich intelligent.

Die Persönlichkeit des Exzentrikers passt in kein psychiatrisches Schema.
Sie stellen sich selbst nicht besonders dar, sondern sind einfach unabhängig von Konventionen und sind geistig abenteuerlustig, ohne von der Meinung anderer abhängig zu sein, so daß sie oft extreme Einzelgänger sind. Sie lassen sich ihre eigene Individualität nicht einschränken.

Wie wird man exzentrisch? Vermutlich ist es eine genetische Veranlagung, die aber durch die Umwelt verschieden stark unterdrückt werden kann.
Wird ein Exzentriker zufällig als englischer Lord irgendwo auf dem Lande geboren, hat er gute Chancen seine Veranlagung auszuleben und zu kultivieren.
Er ist ohnehin finanziell unabhängig und muß sich nicht mit seine gewöhnlichen Untertanen gemein machen.

Als Gegenbeispiel führen Weeks und James das japanische Schulsystem an, in dem Konformität als höchste Tugend gilt. Jede Individualität soll möglichst früh, möglichst endgültig ausgetrieben werden.
Dieses Denken hat eine lange Tradition und führte sowohl zur bedingungslosen Unterwerfung unter fürstlich oder kaiserliche Obrigkeiten.
Befahl ein japanischer Daimyō irgendwann im zweiten Jahrtausend irgendeinem Untertan spontan aus einer Laune heraus, er möge sein Kind köpfen oder sich die Hoden abschneiden, tat derjenige das ohne zu zögern.
Die Kamikaze-Aktionen für den Tenno aus dem Zweiten Weltkrieg sind bis heute legendär.

In Japanischen Schulen galt das Sprichwort „wenn ein Nagel hervorguckt, schlage ihn mit dem Hammer ein“. Jede Aufmüpfigkeit sollte gebrochen werden.
Es gibt Theorien, nach denen dieses gnadenlose Schulsystem mit enormen Mengen auswendig zu lernenden Stoffs dafür verantwortlich ist, daß Japaner heute über einen signifikant höheren Intelligenzquotienten als Amerikaner oder Europäer verfügen sollen (Durchschnittlich IQ 115 im Vergleich zu Europa bei IQ 100) und so auch ihren sagenhaften ökonomischen Aufstieg erreicht haben sollen.
Die Chefs japanischer Weltkonzerne verdienen maximal das Siebenfache eines einfachen Arbeiters  - und nicht das 700-fache, wie in Amerika üblich.
Man identifiziert sich vollständig mit seiner Firma, opfert seine gesamte Freizeit und bis heute kommt es vor, daß Japaner aus Gram über eine Fehlleistung in ihrem Job Seppuku begehen.
(Eine Tradition, die man angesichts totalversagender deutscher Manager à la Grube, Middelhoff oder Urban nicht so voreilig verurteilen sollte.)
Die völlige Homogenisierung der japanischen Gesellschaft war auch lange der Enge und der Bauweise mit Papierwänden geschuldet.
Papierwände waren über Jahrhunderte in einem warmen Klima mit vielen Erdbeben durchaus sinnvoll. Das baut sich  schnell wieder auf.
Privatsphäre kann dann aber nur bedingt herrschen.
Es ist also günstig, wenn die Bewohner sehr diszipliniert und völlig emotionslos sind. Wenn in den eigenen vier Wänden nicht gebrüllt, laut gefurzt oder gelacht wird, wenn Verbeugungen, Lächeln und Zeremonien die Kommunikation bestimmen.

Eine der ungeklärten Fragen in der so unvollständigen Exzentrik-Forschung ist die nach den Folgen von unterdrückter exzentrischer Veranlagung. Kann man so etwas tatsächlich vollständig ausmerzen? Oder bleibt das wie Homosexualität im Katholizismus stets virulent?
Schaffen sich unterdrückte Exzentriker eine Entsprechung zu „Schwulenklappen“, also irgendwelche unbeobachteten Nischen, in denen sie mal ausflippen können?

Man könnte fast den Eindruck haben, wenn man sich Youtube-Clips bizarrer japanischer TV-Shows oder hochgradig groteske Jugendmoden ansieht.
Herr Sugiyama, der sich Penis und Hoden abschneiden und einfrieren ließ, um sie später bei einem Festmahl mit Kräutern und Pizen zu servieren, klingt für meine Ohren schon ziemlich exzentrisch.

Am 31. März 2012 ließ sich der Japaner Mao Sugiyama seinen Penis wie auch seine Hoden operativ entfernen. Dies geschah in der Kazuki-Klinik in Matsue, westlich von Tokio. Die Urethra, die Harnröhre, sowie der Harnausgang wurden kosmetisch angeglichen, alles andere weggeschnitten.
[…] Am Abend des 13. Mai 2012 servierte Sugiyama, als Koch gekleidet, in einem gemieteten Kellerraum im Tokioter Stadtteil Suginami seine Geschlechtsteile als Abendessen. Der Rahmen war der eines Kunst-Events, geschlossene Gesellschaft. Sugiyama hatte das Fleisch aufgetaut, briet es an, servierte fünf Portionen, mit Champignons, Petersilie, Majoran, Basilikum, Rosmarin.
Jeder der fünf Beköstigten hatte 20 000 Yen dafür gezahlt, knapp 200 Euro. Außer diesen Gästen, es waren zwei Frauen und drei Männer, waren noch rund 70 Begleiter gekommen, die von der Veranstaltung gehört hatten.

Klar, das war jetzt ein Witz.
Ein einzelner Vorfall sagt nichts aus und ich bin kein Japan-Kenner.

Ich frage mich aber, ob das relativ neue Phänomen der Hikikomori nicht in Wahrheit die Kehrseite der massenhaft unterdrückten Exzentrik ist.
Gehen Millionen Japaner aus Notwehr gegen die ihnen unmögliche totale Anpassung und Unterordnung in die innere Immigration?

Als Hikikomori (jap. ひきこもり, 引き籠もり oder 引き篭り, „sich einschließen; gesellschaftlicher Rückzug“) werden in Japan Menschen bezeichnet, die sich freiwillig in ihrer Wohnung oder ihrem Zimmer einschließen und den Kontakt zur Gesellschaft auf ein Minimum reduzieren. [….]   Das japanische Gesundheitsministerium definiert als Hikikomori eine Person, die sich weigert, das Haus ihrer Eltern zu verlassen, und sich für mindestens sechs Monate aus der Familie und der Gesellschaft zurückzieht. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen Hikikomori für Jahre oder sogar Jahrzehnte in dieser selbst gewählten Isolation bleiben.
Beschrieben wurde das Phänomen erstmals durch den japanischen Psychologen Tamaki Saitō, der auch den Begriff prägte. Er behauptete, es gäbe in Japan (ca. 127 Millionen Einwohner) mehr als eine Million Hikikomori.
(Wikipedia)

Über die Ursachen wird viel spekuliert.
Vermutlich werden Hikikomori mit dem Druck in der Schule überfordert, leiden unter Mobbing („Ijime“) und scheitern dann an dem Übergang ins Erwachsenenleben.
Erschwerend kommt hinzu, daß auch in Japan die wirtschaftliche Lage angespannt ist und Jobs schwerer zu finden sind.

Kinder, die einfach zu Hause in ihrem Kinderzimmer sitzen bleiben, bis die Eltern sterben, gibt es immer mehr.

Joe [35 Jahre] ist einer der vielen jungen Japaner, die sich von der Gesellschaft abkapseln und ganz auf sich selbst zurückgezogen leben. Er ist ein „Hikikomori“, einer, „der sich zurückgezogen hat“. Ihre Anzahl wird auf über eine Million geschätzt, vielleicht sind es auch deutlich mehr, und sie erzählen viel über das heutige Japan. [….] Und nun gehe ich mit Joe allein in sein Kinderzimmer unter dem Dach. Er richtet seine Matratze vom Fußboden auf und lehnt sie senkrecht an die Wand, damit wir Platz haben. Wir setzen uns an seinen Schreibtisch, das einzige Möbelstück. Fast komme ich mir vor wie in einer Zelle. Das liegt nicht an der Enge, die ist normal in Japan. Es liegt daran, dass Joe die Fenster mit Papier verklebt hat. „Ich möchte nicht, dass mir die Leute von den benachbarten Bürogebäuden ins Zimmer schauen können“, sagt er. Zudem will er nichts vom Berufsverkehr draußen mitbekommen. Er sagt: „Am unerträglichsten ist es, wenn ich morgens all die Pendler sehe, die vom Bahnhof kommen und zur Arbeit gehen.“ In solchen Momenten wird ihm jedes Mal bewusst, dass er die Erwartungen nicht erfüllt hat. [….] Dass er anders ist, das zeigte sich schon früh. Bei der Schulgymnastik drehte er sich nach rechts, wenn er sich nach links drehen sollte. Ständig kam er auf eigene Ideen, seinen Lehrern und Mitschülern ging er damit bald auf die Nerven. Abweichler haben es schwer in japanischen Schulen, wo das Lernziel Anpassung heißt, nicht Kritikfähigkeit. […] Japan befinde sich in einer tiefen Sinnkrise, sagt Psychiater Takagi. Spätestens nach der erfolgreichen Jobsuche würden viele Uni-Absolventen in ein Loch fallen. „Sie verstehen plötzlich nicht mehr, wofür sie gelernt haben, wofür sie überhaupt leben. Sie werden depressiv.“ Hinzu kommt, dass die japanischen Konzerne im Zuge der Globalisierung massenhaft Fabriken in Billiglohnländer wie China verlagert haben. Die lebenslange Arbeitsplatzgarantie und die automatische Beförderung gelten für immer weniger Beschäftigte. Rund 40 Prozent der Japaner arbeiten mittlerweile ohne feste Anstellung. Joe kapselte sich ab, bei seinen Eltern hat er ja alles, was er braucht: Essen, Bett, Computer. Ein Handy besitzt er nicht, aber wen sollte er auch anrufen?
(Der SPIEGEL 05.01.15 s. 89 f)

Vielleicht ist es an der Zeit eine neue Minderheit in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken.
Nach Frauen, Schwarzen, Schwulen und Atheisten muss sich die Welt auch auf Konformitätsverweigerer, Sozialphobiker, Exzentriker und Unangepasste einstellen, die derzeit eher versteckt werden und jährlich zur Freude der Pharmakonzerne viele Millionen Packungen Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und Neuroleptika verzehren.
Sie einfach als „irre“ abzustempeln und abzukapseln wird auf Dauer nicht funktionieren.

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